Deutsche Übersetzungen von Little Men im Vergleich

Kleines Volk (S. 204-206)

 

Am nächsten Tag war der kleine Rob wieder ganz munter, aber Nan hatte Kopfschmerzen und lag auf Mutter Baers Sofa, das zerkratzte Gesicht dick eingefettet.

Ihre Reue war völlig verflogen, und sie betrachtete das Verirrtsein offenbar nur noch als herrliches Vergnügen. Diese Haltung gefiel Frau Jo durchaus nicht, denn sie legte wahrhaftig keinen Wert darauf, daß ihre Schützlinge auf Heidelbeerwiesen verlorengingen. Sie machte Nan deshalb ernsthafte Vorhaltungen und versuchte ihr den Unterschied zwischen Freiheit und Ungehorsam klarzumachen. Sie hatte sich noch nicht entschieden, welche Strafe Nan erhalten sollte, aber eine dieser Geschichten gab ihr eine Anregung, und da Frau Jo etwas für seltsame Bußen übrig hatte, beschloß sie es sogleich zu versuchen.

„Alle Kinder laufen mal weg“, verteidigte sich Nan. Sie brachte es vor, als wäre es ebenso natürlich und unvermeidbar wie Masern oder Keuchhusten.

„Alle nicht, und manche, die weggelaufen sind, hat man nie wiedergefunden“, erwiderte Frau Jo.

„Haben Sie es denn nicht auch getan?“ fragte Nan, die mit scharfem Blick in der gestrengen Frau, die so tugendhaft neben ihr saß und nähte, den verwandten Geist erspäht hatte.  

Frau Jo bekannte lachend, daß sie es allerdings auch getan hätte.  

„Erzählen Sie“, verlangte Nan, vollkommen bewußt, daß sie nun bei der Verhandlung Oberwasser hatte.  

Frau Jo sah es ebenfalls und wurde sofort wieder ernst. Mit reuevollem Kopfschütteln sagte sie: „Ich habe es sogar viele Male getan und meiner armen Mutter das Leben mit meinen Streichen recht schwer gemacht, bis sie mich kuriert hat.“

„Wie denn?“  Nan setzte sich neugierig aufrecht.  

„Ich hatte einmal ein Paar neue Schuhe und wollte mich überall damit zeigen. Deshalb lief ich davon, obwohl ich den Garten nicht verlassen sollte, und wanderte den ganzen Tag in der Stadt herum. Daß ich dabei nicht überfahren wurde, erscheint mir heute noch wie ein Wunder. Es war herrlich. Im Park spielte ich mit den Hunden, ließ mit fremden Jungens auf dem Teich Boote schwimme, aß mit einem kleinen Bettelmädchen zu Mittag Salzhering und Pellkartoffeln, und endlich fanden meine Eltern mich, fest eingeschlafen auf einer Türschwelle um einen großen Hund geschlungen. Es war schon spät abends, ich war schmutzig wie ein kleines Schweinchen, und meine neuen Schuhe waren ganz zerrissen, so weit war ich herumgelaufen.“

„Wie hübsch!“ rief Nan; bereit sofort hinzugehen und es nachzumachen.

„Am nächsten Tag war es aber gar nicht mehr hübsch.“ Frau Jo gab sich größte Mühe, ihre Augen nichts von dem Vergnügen verraten zu lassen, das die Erinnerung an ihre jugendlichen Streiche ihr bereitete.

„Haben Sie von ihrer Mutter Prügel bekommen?“

„Sie hat mich nur ein einziges Mal geschlagen, und da hat sie mich hinterher um Verzeihung gebeten. Ich glaube, ich hätte ihr sonst auch nie vergeben können, so sehr hatte sie mich gekränkt.“

„Warum hat sie Sie denn um Verzeihung gebeten? Mein Vater tut das nie.“

„Weil ich, als sie fertig war, mich umdrehte und sagte: ´Du bist ja selber böse und müßtest ebensogut Schläge kriegen wie ich.’ Sie sah mich eine Weile an, dann war ihr Zorn plötzlich verschwunden und sie sagte, als ob sie sich schämte. ‚Du hast Recht, Jo, ich war wirklich wütend. Wenn ich dir so ein schlechtes Beispiel gebe, habe ich kein Recht dich für deine Wut zu strafen. Vergib mir Liebes. Wir wollen versuchen, uns gegenseitig auf bessere Art zu helfen.’ Das habe ich nie vergessen und es hat mir viel mehr geholfen, als wenn meine Mutter ein Dutzend Ruten verbraucht hätte.“

Nan saß ein Weilchen still und drehte nachdenklich den kleinen Cremetopf zwischen den Fingern. Frau Jo schwieg, damit das lebhafte kleine Gehirn, das alles was geschah, so schnell empfand und verarbeitete, in aller Ruhe diesen Gedanken aufnehmen konnte.

„Das gefällt mir“, sagte Nan plötzlich. Ihr Gesicht hatte einen ganz neuen Ausdruck bekommen; für gewöhnlich sah sie eher wie ein Kobold aus mit ihrer neugierigen Nase und dem lachlustigen Mund.

„Was hat ihre Mutter denn gemacht, als Sie weggelaufen waren?“

„Sie band mich mit einer langen Schnur an einem der Bettpfosten an, so daß ich nicht aus dem Zimmer konnte. Da mußte ich den ganzen Tag bleiben, und die kleinen abgelaufenen Schuhe hingen vor mir, damit ich meine Untat recht vor Augen hatte.“

„Man sollte meinen, das müßte bei jedem helfen“, rief Nan, die ihre Freiheit über alles schätzte.

„Bei mir hat es jedenfalls geholfen und ich hoffe, daß es das auch bei dir tut: ich werde es nämlich ebenso machen“, sagte Frau Jo und nahm plötzlich einen Knäuel starken Zwirn aus einer Schublade des Nähtisches. (...)  

 

Die gleiche Textstelle liest sich in "Jahre der Erfüllung" so:

Jahre der Erfüllung (S. 88)

 Am nächsten Tag war Nanas Reue schon verflogen, und Tante Jo mußte sehr lange und ernsthaft mit ihr reden, bis Nana endlich einsah, daß Davonlaufen kein lustiger Zeitvertreib, sondern eine große Dummheit war, mit der sie sich und andere in Gefahr brachte. Zum Schluß versicherte Nana, sie habe jetzt genau begriffen, was alles geschehen konnte, wenn man sich bei einem Ausflug von den anderen trennte oder einfach aus dem Haus lief, aber sie fügte trotzdem rebellisch hinzu:

„Alle Kinder laufen einmal davon!“, als ob Davonlaufen so unvermeidlich wie Keuchhusten oder Masern sei. Obendrein sagte Nana noch Tante Jo auf den Kopf zu: „Du bist auch einmal davongelaufen.“

„Nicht nur einmal, sondern ein paarmal“, mußte Tante Jo zugeben. „Und weißt Du, wie meine Mutter mich davon geheilt hat? Sie hat mich einen ganzen Tag lang mit einem Strick an einem Bettpfosten angebunden!“

„Junge, Junge, da würde mir das Davonlaufen auch vergehen!“ entfuhr es Nana unwillkürlich, denn sie liebte ihre Freiheit über alles.

„Dann wollen wir diese Wundermedizin gleich an dir ausprobieren“, sagte Tante Jo, holte eine lange Kordel und band Nana tatsächlich am Sofa fest. (...)

 

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